Problematische Juristische Aufarbeitung

 

Problematische juristische Aufarbeitung

Die ZERV (Zentrale Ermittlungsstelle Regierungs- und Vereinigungskriminalität) hatte ab 1991 in einem Referat Ermittlungen zum Staatsdoping, deren Täter und Betroffene aufgenommen. Da die Menge der Ermittlungen und Verfahren sehr umfangreich waren, kam es zur Bildung von Schwerpunktstaatsanwaltschaften, wo die Verfahren geführt wurden. Die ZERV leistete großartiges, ermittelte mit Hochdruck.

In der Folgezeit mussten sich führende Mediziner und Funktionäre des DDR-Sports im Zusammenhang mit Doping wegen Körperverletzung oder Beihilfe dazu vor Gericht verantworten.

Ab Oktober 2000 setzte die Strafverjährungsverfolgung ein und die Kapazitäten der Justiz waren wohl, neben vielen anderen Problemen, nicht ausreichend. Vermutlich, auch um Verhandlungskapazitäten und Zeit zu sparen, wurde von den Staatsanwaltschaften mit dem Mittel eines Strafbefehls gearbeitet, der dann keine Verhandlung vor Gericht notwendig machte.

So kamen die Hauptverantwortlichen, DDR-Sportchef Manfred Ewald und der oberste Sportmediziner Manfred Höppner, mit Bewährungsstrafen davon.

Eine Verurteilung im Rechtstaat verlangt klare Beweise, z. B. ein Rezept, eine dokumentierte Übergabe von Mitteln und ähnliches, die eben gerade beim Doping von DDR-Staatswegen vertuscht wurden.

Die Aufarbeitung eines totalitären Systems mit rechtstaatlichen Mitteln ist insofern schwierig, da von den Tätern viele einschlägigen Beweise vernichtet worden sind und die Ermittlungsbehörden im Allgemeinen auf keine geordneten Unterlagen zugreifen konnten.

An der Humboldt-Universität in Berlin forscht Professor Giselher Spitzer seit Jahren zu diesem Thema. Er sagte, dass dieses Thema nur in Umrissen erforscht ist. Das Geschehen in den Sportclubs der Bezirke liege noch weitgehend im Dunkeln.

"Bis heute ist beispielsweise nicht bekannt, wie viele Strafbefehle im Zusammenhang mit der Vergabe von Dopingmitteln in der DDR insgesamt überhaupt erlassen wurden."

Verschiedene Quellen gehen von ca. 100 verhandelten Strafverfahren aus, wobei die Zahl der Strafbefehle im Unklaren bleibt. Genaue Zahlen sind nicht gesichert bekannt.

Beispielsweise wurden in Erfurt fünf Ärzte und ein Trainer mittels Strafbefehles von 2.500 bis 11.700 Mark verurteilt, 53 Ermittlungsverfahren wurden wegen geringer Schuld eingestellt.

Oberstaatsanwalt Schnittcher (Schwerpunktabteilung Brandenburg, Tagesspiegel 29.09.2000):


„Wegen des Vorwurfs des Dopings ermittelte die Schwerpunktabteilung gegen
171 Beschuldigte, in drei Fällen ergingen Strafbefehle in Form von Geldstrafen.“

 Michaela Galandi schreibt in ihrem Buch „Strafrechtliche Aufarbeitung von DDR-Zwangsdoping“ von insgesamt 574 ergangenen Strafbefehlen.

 

Beispiele für Anklagen, Verurteilungen:

  1. März 1998 - Vor dem Berliner Landgericht beginnt der erste Prozess um das systematische Doping von DDR-Sportlern. Angeklagt sind insgesamt sechs Trainer und Ärzte des SC Dynamo Berlin.
  2. August 1998 - Vor einer anderen Kammer des Berliner Landgerichts beginnt der zweite Prozess um das DDR-Doping gegen fünf Verantwortliche des TSC Berlin. Zum Prozessauftakt räumen alle Angeklagten ihre Beteiligung an der Vergabe von Anabolika ein.
  3. August 1998 - Im zweiten Prozess um das systematische Doping im DDR-Sport stellt das Gericht das Verfahren gegen zwei Trainer des TSC Berlin gegen Zahlung einer Geldbuße ein. Wegen geringer Schuld brauchten sie nur 7.500 beziehungsweise 3.000 Mark zahlen.
  4. August 1998 - Erstmals verurteilt ein Gericht Verantwortliche des DDR-Sports wegen Dopings. Das Berliner Landgericht verhängt gegen zwei frühere Ärzte und einen Trainer des TSC Berlin Geldstrafen wegen Körperverletzung beziehungsweise Beihilfe dazu in Höhe von 7.000 bis 27.000 Mark
  5. August 1998 - Zum zweiten Mal spricht das Berliner Landgericht Verantwortliche des DDR-Leistungssports wegen Dopings schuldig. Ein früherer Trainer vom SC Dynamo Berlin musste 7.200 Mark Geldstrafe zahlen, ein Dynamo-Sektionsarzt 9.000 Mark.
  6. September 1998 - Das Berliner Landgericht stellt das Verfahren gegen einen Trainer des SC Dynamo Berlin wegen geringer Schuld gegen 5.000 Mark Geldbuße ein. Auch die Verfahren gegen zwei weitere Trainer wurden in den nächsten Wochen gegen 4.000 und 3.000 Mark Geldbuße eingestellt.
  7. Dezember 1998 - Als letzter Angeklagter des Pilotprozesses gegen Verantwortliche des SC Dynamo wird der frühere Chefarzt Bernd Pansold zu einer Geldstrafe von 14.400 Mark verurteilt.
  8. April 1999 - Die Berliner Justiz teilt mit, dass gegen den früheren Direktor des Sportmedizinischen Dienstes der DDR, Dietrich Hannemann, mit Hilfe eines Strafbefehls eine Geldstrafe von 45.000 Mark verhängt wurde.
  9. Juni 1999 - Die Berliner Justiz berichtet, dass erstmals ein Sportmediziner per Strafbefehl wegen Dopings zu sechs Monaten Haft auf Bewährung verurteilt worden ist.
  10. Oktober 1999 - Der frühere Vizepräsident des Deutschen Turn- und Sportbundes, Horst Röder, wird mittels Strafbefehl zu einer einjährigen Haftstrafe auf Bewährung verurteilt.
  11. Dezember 1999 - Der frühere Generalsekretär des Deutschen Schwimmsportverbandes (DSSV), Egon Müller, und zwei mitangeklagte Cheftrainer werden zu jeweils einem Jahr Haft auf Bewährung verurteilt. Zudem müssen die drei je 5 000 Mark Geldbuße zahlen, entschied das Berliner Landgericht.
  12. Januar 2000 - Der frühere DDR-Schwimmverbandsarzt Lothar Kipke wird zu der bislang höchsten Strafe wegen des systematischen Dopings im DDR-Sport verurteilt. Kipke erhält eine Haftstrafe von einem Jahr und drei Monaten auf Bewährung.
  13. März 2000 - Der Sportmediziner des ASK Vorwärts Potsdam, Jochen Neubauer, wird vom Amtsgericht Potsdam zu 9.000 Mark Geldstrafe verurteilt. Der Olympia-Stützpunkt kündigt Neubauer daraufhin. Auch der Fußball-Zweitligist Tennis Borussia, bei dem er als Mannschaftsarzt tätig war, trennt sich von dem Mediziner.
  14. April 2000 - Die Erfurter Staatsanwaltschaft teilt mit, dass die Doping-Verfahren in Thüringen weitgehend abgeschlossen sind. Fünf Ärzte und ein Trainer wurden zu Strafen zwischen 2.500 und 11.700 Mark verurteilt.

53 Ermittlungsverfahren wurden wegen geringer Schuld eingestellt.

  1. Juli 2000 - Der langjährige DDR-Sportchef Manfred Ewald und der als zentrale Figur des Staatsdopings mitangeklagte Sportarzt Manfred Höppner werden nach

22 Verhandlungstagen zu Bewährungsstrafen verurteilt: 22 Monate Haft auf Bewährung für Ewald, 18 Monate auf Bewährung für Höppner. Beide hätten sich, so die Richter, der heimlichen Verabreichung von männlichen Hormonen, sogar an minderjährige Sportler, der Beihilfe zur Körperverletzung schuldig gemacht.
( Quelle : dpa, 29.09.2010
https://www.augsburger-allgemeine.de/sport/Chronologie-Die-wichtigsten-Urteile-zum-Doping-im-DDR-Sport-id8555081.html )


Beispiele:

SC Cottbus und der Umgang mit einem Dopingarzt

Als langjähriger Chef der Sportmedizinischen Hauptberatungsstelle Cottbus spielte Krocker eine zentrale Rolle beim Doping von Lausitzer Spitzensportlern.
Eine DDR-Sportlerin, die Dopingmittel bekam, war die Cottbuser Hürdensprinterin Birgit Uibel, die Anfang 2010 mit nur 48 Jahren an schweren inneren Erkrankungen starb. Seit sie 16 Jahre alt war, hatte sie, wie andere "Olympia-Kader" in Cottbus, das DDR-Dopingpräparat Oral-Turinabol verabreicht bekommen. Sie litt an schweren Schäden der Leber und der Schilddrüse.
Birgit Uibel war anerkanntes Dopingopfer und hatte in den 90er-Jahren durch ihre Aussagen bei der Zentralen Ermittlungsstelle für Regierungs- und Vereinigungskriminalität (ZERV) zur Aufklärung illegaler Leistungssteigerung im DDR-Sport beigetragen. Dabei hatte sie auch Bodo Krocker belastet und Strafantrag gestellt. Er habe ihr damals versucht zu erklären, warum sie diese "unterstützenden Mittel" nehmen müsse und sie zur strengsten Verschwiegenheit aufgefordert.
Für Krocker endeten die Ermittlungen mit einem Strafbefehl. Das Amtsgericht Cottbus machte ihn mitverantwortlich für die Verabreichung von Dopingpräparaten an etwa ein Dutzend Sportler des SC Cottbus. Weil eine Verurteilung durch Strafbefehl jedoch ohne Verhandlung erfolgt, blieb diese juristische Feststellung von Krockers Beteiligung am DDR-Dopingsumpf der Öffentlichkeit verborgen.
Nicht verborgen blieb der Strafbefehl durch eine Mitteilung der Staatsanwaltschaft der Brandenburger Landesärztekammer. Dort saß Bodo Krocker in den beiden Prüfausschüssen für Chirotherapie und Sportmedizin. Die Kammer sah jedoch keine Notwendigkeit zu handeln. Mit der juristischen Bestrafung sei auch die vorliegende Verletzung seiner berufsrechtlichen Pflichten in vollem Umfang abgegolten.
Eine "Doppelbestrafung" dürfe es nicht geben. Krocker behielt seine Sitze in beiden Prüfgremien der Landesärztekammer. Der inzwischen 64-Jährige schied Anfang 2010 dort aus.
Laut Stasi-Bezirksverwaltung Cottbus waren 1982 im Sportclub und der Kinder- und Jugendsportschule (KJS) Cottbus insgesamt 44 Spitzel im Einsatz: Neun aktive Sportler, 17 Trainer, Lehrer und Erzieher, 13 Sportfunktionäre und fünf Mitarbeiter der Sportmedizin. Fast die Hälfte der heimlichen Zuträger waren "Reisekader", also Sportler, Trainer, Ärzte und Funktionäre, die zu Wettkämpfen in den Westen fahren durften.
Einer davon war Bodo Krocker. Als Mannschaftsarzt der DDR-Leichtathleten war er viel unterwegs.
Eine Spurensuche bei ehemaligen Bespitzelten aus der Lausitzer Sportszene stößt auf viel Zurückhaltung. Manche wollen nicht mehr eintauchen in die Akten, die heimlich über sie geführt wurden, weil dann "alles wieder hochkommt". Andere fürchten noch immer persönliche Angriffe, wenn sie offen darüber reden.
(Quelle: LR-online, 6.7.2010, zitiert, gekürzt
https://www.lr-online.de/nachrichten/cottbuser-sportmediziner-spielte-in-der-ddr-wichtige-rolle-beim-doping-von-lausitzer-sportlern-37421474.html )

 

Aus der Schwerpunktstaatsanwaltschaft Erfurt
(Quelle: Hauptstaatsarchiv Weimar)

Es fanden 14 Verfahren zu Beschuldigten mit 194 angelegten Akten statt.
Eine Teilanalyse der Ermittlungsakten ergibt:
Von 24 Geschädigten waren 15 Personen minderjährige Sportler, davon 12 Personen mit Schäden an Leber, Skelett und Nieren, d. h. also 50 % der Sportler waren geschädigt und
63 % der Betroffenen waren minderjährig.

 
Aus der Staatsanwaltschaft Mecklenburg-Vorpommern
(Quelle: Landesarchiv Schwerin)

Eine Teilanalyse der Ermittlungsakten ergibt:
Von 82 der befragten Zeugen haben nachweislich (95 % noch minderjährig) Dopingmittel von den Trainern und Ärzten bekommen.

In Schwerin erfolgten ab 1998 durch die Staatsanwaltschaft Schwerin Ermittlungen gegen acht Trainer und zwei Ärzte des Sportclub Neubrandenburg.
Es war wenig Zeit, denn am 03.10.2000 trat die Verjährung ein. Das war wohl auch ein Grund, weshalb der Staatsanwalt Bardenhagen mit Strafbefehlen arbeitete, ansonsten wäre es bei vielen Verfahren zu keinem Ergebnis gekommen.

Es hat auch Pannen gegeben. In einem Fall ging der Strafbefehl beim angeklagten Arzt am 04.10.2000 ein, also nach der Verjährungsfrist, demzufolge erfolgte keine Strafzahlung.

Zwei Wissenschaftler, Prof. Marxen und Prof. Werle, benennen in ihrem Forschungsprojekt „Strafjustiz und DDR-Vergangenheit“ Gründe, warum man die strafrechtliche Aufarbeitung als gescheitert erklären kann.
Im Rechtsstaat sind die Beschuldigten stets im Vorteil. Im Zweifel müssen Richter für den Angeklagten entscheiden. In rechtsstaatlichen Verfahren kann den mutmaßlichen Tätern ein Verbrechen nur dann angelastet werden, wenn die Beteiligung zweifelsfrei nachzuweisen ist.
Zweifel gab es viele, was auch an der lückenhaften Überlieferung der Unterlagen aus den Sportmedizinischen Einrichtungen lag.
( Quelle : Marxen/Werle Strafrechtliche Aufarbeitung von DDR-Unrecht, Eine Bilanz, Berlin 1999, S. 103)

Viele ehemalige Leistungssportler sind gesundheitlich mit den entsprechenden persönlichen Folgen schwer geschädigt.
Umso wichtiger ist es, dass die Aufarbeitung in der Gesellschaft, in den Sportverbänden stattfindet, das Staatsdoping und deren Folgen dort thematisiert werden.

 

Abkürzungen

ZERV  Zentrale Ermittlungsstelle Regierungs- und Vereinigungskriminalität, Berliner

           Ermittlungsbehörde von 1991 bis 2000;

           Referat 1: vereinigungsbedingte Wirtschaftskriminalität

           Referat 2: Regierungskriminalität (u.a. Doping)

KJS     Kinder- und Jugendsportschule